"Feierabend" in einer Wohngemeinschaft für Menschen mit Behinderung

  • Geschwister-Gummi-Stiftung

Eine WG mit Handycap, Selbstbestimmung und ganz viel Herz

In einer Wohngemeinschaft für Menschen mit Behinderung ist mit der Wiederaufnahme der Werkstatt-Arbeit wieder mehr Tagesstruktur eingekehrt. Ihren Feierabend gestalten die Frauen und Männer unterschiedlich und selbstständig, manchmal raffiniert und wankelmütig. Ein Besuch am Freitag Nachmittag.

Eine Frau Mitte zwanzig steht mit vollgepackter Tasche im Flur und wartet auf Betreuer Jakob. „Was machst du heute, meine Gute“, fragt eine Ältere, die gerade ihre Wäsche gewaschen hat, neugierig. Stolz verkündet jene: „Mein Schatz holt mich ab!“ Dann strahlen beide und teilen ihre Freude miteinander. Ein typisches Feierabend-Szenario an einem Freitagnachmittag in einer Wohngemeinschaft für Menschen mit Behinderung der Diakonie Kulmbach. Alle Frauen und Männer haben eine geistige Beeinträchtigung, manche zusätzlich eine körperliche. Die meisten von ihnen treffen nach und nach aus den Werkstätten für behinderte Menschen der Lebenswerk gGmbH Werk Kulmbach ein, wo sie zum Beispiel in der dortigen Schreinerei Paletten auf Bestellung für ansässige Firmen herstellen. Seit einigen Wochen können die meisten von ihnen wieder dort arbeiten. „Wie war dein Tag“?, fragt Jakob. „Schön“, nickt ein stiller Mann mit neugierigen Augen. Andere Bewohner ziehen sich zurück, schlafen oder hören Musik. Auch auf dem Balkon über dem liebevoll gepflegten Garten sieht man einzelne die Sonnenstrahlen genießen.

Selbstständigkeit schafft Rechte und Pflichten

Es ist ein fröhliches und unbeschwertes Treiben im 1. Stock des Hauses, in dem insgesamt 13 Bewohnerinnen und Bewohner zusammen leben. Jeder hat ein eigenes Zimmer mit Bad, bei Bedarf sind diese rollstuhlgerecht ausgestattet. Zusätzlich gibt es eine große Küche, ein Badezimmer mit großer Badewanne und einen Wohnraum mit Fernseher. Die Stimmungen unter den „WGlern“ sind dabei so vielfältig wie in anderen Haushalten auch: „Manche kabbeln sich, manche verstehen sich gut und manche leben nebeneinander her“, verrät Holger Bär, Leiter der Wohngemeinschaft. Doch ein gemeinsames Ziel verbindet sie: Das größtmögliche Maß an Selbstständigkeit. Die Frauen und Männer gehen einkaufen, besuchen Freunde und Familie oder gehen Kaffee trinken. Je nach individuellen Fähigkeiten erhalten die Bewohnerinnen und Bewohner etwa ein Taschengeld, über das sie frei verfügen können. Für das Haushaltsgeld, das jeder erhält, müssen die Belege mit Hilfe der Betreuer abgerechnet werden. Heute präsentiert eine ältere Frau stolz jedem, dem sie begegnet, ihre neuen Sandalen, die sie eben erst erstanden hat. Dass sie dafür die alten, kaputten Schuhe entsorgen sollte, hat sie vergessen. Holger Bär erinnert sie daran.

Tagesstruktur durch Arbeit in der Werkstatt

Denn wo Rechte sind, existieren auch Pflichten: Die Frauen und Männer sorgen für eine Grundsauberkeit in ihren Zimmern, täglich unterstützt zudem eine Reinigungskraft die Wohngemeinschaft. Diese erhält wiederum Hilfe durch eine Bewohnerin als Assistentin.  Alle sorgen selbst für ihre Mahlzeiten, indem sie entweder kochen oder sich in eine Liste für gemeinsame Mahlzeiten eintragen – dafür ist dann aber auch jeder einmal mit der Zubereitung dran. Das bereitet den meisten großen Spaß und trainiert auch praktische Fähigkeiten.   Während der Corona-Pandemie gaben die Mitarbeitenden den Bewohnerinnen und Bewohnern über den gesamten Tag hinweg Anreize und Motivation bei gleichzeitig wenig Freizeitangeboten. Dies geschah in Form von Backaktionen, Spaziergängen, Spielen, Basteltagen und Filmen. Die Tagesstruktur, die maßgeblich durch ihre Werkstatt-Arbeit geschaffen wird, fiel weg. Durch die längeren Betreuungszeiten konnte gleichzeitig weniger Personal gleichzeitig anwesend sein. Nun, beinahe im „Normalmodus“, können wieder vermehrt Ausflüge, wie etwa nach Bamberg, angeboten werden. Doch dieser Plan ist am Freitagnachmittag überschattet: „Erst melden sich viele dafür an und kurz vorher müssen wir dann doch noch Überzeugungsarbeit leisten“, verrät Elias Bettig der kurz vor den Prüfungen zum Abschluss seiner Ausbildung zum Heilerziehungspfleger steht.

Das ist einer der Herausforderungen, mit denen das Team kämpft. Ebenso unterstützen die Mitarbeitenden die Bewohnerinnen und Bewohner bei aufwendigerer Körperpflege wie etwa der Rasur, der Strukturierung ihres Alltags, beim Verstehen von Dokumenten oder Sachverhalten oder schlicht bei Vereinbarungen. Die Corona-Pandemie hat jedoch auch hier Spuren hinterlassen: „Manche haben leider auch Dinge verlernt oder Sicherheit verloren, zum Beispiel in ein Café zu gehen und einfach Kaffee zu trinken“, beobachtet Holger Bär. Sein Team und er haben nun das Ziel, die Selbstständigkeit vieler Bewohnerinnen und Bewohner wieder „aufzuwecken“. Denn viele von ihnen nehmen, anders als in anderen Wohngemeinschaften für Menschen mit Behinderung der Diakonie Kulmbach, stark am gesellschaftlichen Leben teil: Einige von ihnen besuchen beispielsweise regelmäßig Spiele eines nahegelegenen Kulmbacher Fußballvereins.

Schrebergarten und Lagerfeuer

Nun wird es laut im Flur: Ein großer Mann mit etwas zerzausten Haaren kommt herein, die Hände sind noch schmutzig. Mit einem breiten Lachen verrät er den anderen, dass er gerade im Schrebergarten der Wohngemeinschaft Bretter klein gesägt hat – für das Lagerfeuer im Garten am nächsten Tag. Man muss deutlich hinhören, um ihn zu verstehen: Neben einem Sprachfehler fällt vor allem sein markanter Kulmbacher Dialekt auf. Doch er nimmt es denjenigen, die ihn nicht verstehen, nicht übel. Stattdessen sagt er: „Macht nix, mei Gute.“ Und lässt andere weiterhin an seiner guten Laune teilhaben. Er und einige der Bewohnerinnen und Bewohner freuen sich auf die Sommer-Freizeit. Wohin diese führt und unter welchen pandemiebedingten Umständen sie stattfindet, wird noch nicht verraten: Schließlich dürfen alle von Meer, Bergen oder weiten Feldern träumen.

 

www.diakonie-kulmbach.de

Lagerfeuer